Jürgen Borchert schreibt in seinem Buch, "Was ich von Wismar weiß", (Hinstorff, Rostock, 2000, Seite 59ff):
ISBN 3-356-00875-7
 

"DER TURM AUF DEM KAHLEN PlATZ   Zu den Bildern von St. Marien

  „In Wismar werfen die Kirchen/ wie rote Berge auf ..“, so schwärmt der
Dortmunder Kunstschriftsteller Fritz Mielert in seinem Niedersachsen-
buch" 1922. Wir zitierten den zutreffenden und schönen Satz bereits zu
Beginn unseres Buches. Mielerts Euphorie beim Anblick der alten Kirchen
Wismars ist ohne falschen Zug und ganz ehrlich, wie mir scheinen will. Das
hat auch Johannes Gillhoff, der Vater des "Jürnjakob Swehn", so empfunden,
als er 1925 mit der Herausgabe der "Mecklenburgischen Monatshefte"
begann und Mielert dafür um einen Aufsatz bat. Der wählte den Titel sei-
nes Gedichts als Überschrift und gab auf vier knappen, atmosphärisch dichten
Seiten seiner Liebe zu Wismars "roten Bergen" kenntnisreichen Ausdruck.
Als Fritz Mielert Wismar sah, war St. Marien und der sie umgebende
Raum noch unbeschädigt erhalten. Von den drei großen Kirchen meint er:
"Sie haben etwas Riesenmäßiges, diese Gigantenstümpfe", und "nichts aus
dem Regelbuch der Architekur". "Sankt Maria ist eine frauenfeine Riesin.
Der Turm stolz erhoben wie ein königliches Haupt, der Leib schlank und
edel, die Strebbögen steif gespreizt. So steht sie mittendrin in den Häusern
der Stadt [...]". Das ist eine sehr genaue Beobachtung. Der gewaltige Koloß
aus Ziegelmauerwerk steht im Kranz der die Kirche umgebenden Gassen
und Häuser der engen Altstadt wirklich wie eine unangreifbare Riesin da,
und wenn auch die Bomben dem königlichen Bauwerk schwerste Wunden
schlugen, so warfen sie es doch nicht gänzlich nieder. Dies geschah erst
durch anmaßenden Frevel kleiner Geister, die, wenn sie schon religiöse
Gedanken weit von sich wiesen, nicht einmal die Toleranz besaßen, den
unersetzlichen Kunstwert der Halbruine zu achten. So gaben sie den Befehl
zur Sprengung im August 1960, auf die später noch genauer einzugehen ist.
Nur der Turm steht noch "mittendrin". Pläne für einen Wiederaufbau in
alter Form müssen als undurchführbar gelten - es würde ja bedeuten, eine
ganze gotische Kirche von Grund auf neu zu errichten. Schon der Wieder-
aufbau von St. Georgen, die wir gleich anschließend besuchen, stellt uns vor
schier unüberwindlich erscheinende Probleme, obwohl doch hier ein gro-
ßer Teil der ursprünglichen Substanz erhalten blieb.
Ausgerechnet der letzte der fünfzehn Bombenangriffe, die Wismar von
1940 bis 1945 erdulden mußte, und der frevelhafte Abriß der Reste 1960161
schufen die kahle Weite des Platzes, die heute den einsam ragenden Turm
so anklagend umgibt. Einsam: ja, indes nicht schweigend. Wenn es Wun-
der gibt, so ist dieses eins: Das herrliche, zwölf Glocken umfassende Geläut
blieb erhalten.
Die älteste der Glocken stammt vom Ende des 14. Jahrhunderts, hängt
also seit 600 Jahren im Marienturm; ihr Gießer ist unbekannt. Die größte
mit einem Gewicht von fünf Tonnen und einem Durchmesser von zwei
Metern goß Harmen Pasmann aus Lübeck im Jahre 1 567. Diese Glocke gilt
als sein Meisterwerk, er verlieh ihr durch seine Kunst einen b-Ton von
"orgelartiger Fülle", schreibt ein Kenner (C. Peters) 1994 in den " Wisma-
rer Beiträgen". Jahrhunderte hindurch wurden die Glocken von Sankt Ma-
rien auch als Glockenspiel genutzt. Über ein halbes Jahrhundert allerdings
schwieg es, bis es 1982 nach der Rekonstruktion des Turmes wieder in-
standgesetzt und mit einem Repertoire von 14 Chorälen ausgestattet wur-
de. So lebt die große Harmonie dieser Kirche wenigstens in ihrer Stimme
fort.
Jeden fühlenden Menschen rührt immer noch das Namenlose an, wenn
er aus der Schlucht der Sargmacherstraße auf den Freiraum tritt, den einst
die Kirche umschloß. Vielleicht, im kommenden Jahrhundert, wird hier ir-
gend etwas Neues entstehen. Schon bewegen die Architekten Modelle in
ihren Herzen und Köpfen, eine Innenhofanlage vielleicht, einen nach oben
offenen, klösterlich stillen Raum aus Stein, schmucklos und weiß, eine
spannungsvolle Begegnung des 21. Jahrhunderts mit dem Mittelalter -
warum nicht? Leer muß dieser Platz nicht bleiben, und daß er leer blieb,
bisher, umgreift auch Hoffnung auf die Überwindung der Trauer. Übrigens
haben jahrhundertelang auch Türmer auf Sankt Marien gehaust, waren
damit beschäftigt, auf Feind und Feurio zu achten. Erst 1919 erlosch
das Amt. Sein letzter Verweser hieß Theodor Schmidt. Der hatte dort
oben einen Ausblick! Die Stadt lag ihm vor Augen wie ein exakt gezeichneter
Plan, und über die Insel Poel unten in der Bucht hinweg sah er die freie
See, sah die Gewitter heranziehen, die sich krachend auf den Bau
warfen und den Turm im Verlaufe seiner Geschichte auch mehrmals
empfindlich trafen, sah auch nach Süden und Osten zu die alleengesäumten
Straßen ins Land laufen, sah Mecklenburgs Hügel Welle um
Welle sich reihen wie ein erstarrtes Meer."

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